Not!In!My!Back!Yard! - oder
warum nehmen Bürger Beteiligungsangebote nicht an – und wie
reagieren wir?
Eines der Kernthemen der Piratenpartei
ist, neben der Transparenz politischer Entscheidungen, immer schon
die Bürgerbeteiligung gewesen. Wir wollen die Bürgerinnen und
Bürger in den jeweiligen Kommunen mehr in die Vorgänge einbeziehen.
Gerade die Kommunalpolitik ist ja die Form der Politik, die die
Menschen am direktesten betrifft: Wo und wann eine Kindertagesstätte
gebaut wird, welche Straßen saniert oder neu geschaffen werden
müssen bis hin zur Förderung und Steuerung kultureller Angebote.
Die Kommunalpolitik betrifft unser direktes Lebensumfeld.
Nachdem das Thema „Bürgerbeteiligung“
von den meisten etablierten Parteien in den letzten Jahrzehnten eher
drittrangig behandelt worden ist, ist es, nicht zuletzt durch das
Auftreten der Piratenpartei, inzwischen in vielen Städten, Gemeinden
und Landkreisen auf der Tagesordnung, den Bürger über verschiedene
Mechanismen einzubeziehen. Es gab in den letzten Jahren hier
verschiedene Anläufe, hier Prozesse zu etablieren. Leider sind viele
dieser Vorhaben insgesamt als gescheitert anzusehen:
Die Stadt Oldenburg hat einen drei
Jahre lang getesteten Bürgerhaushalt nach 3 Jahren wieder
abgeschafft. Im Rahmen des letzten Bürgerhaushalts in Oldenburg
erhielten nur noch 10 von insgesamt 145 Vorschlägen in einer
Bürgerbefragung von 5000 zufällig ausgewählten Bürgern mehr als
10 Stimmen.
Ein weiterer Ansatz in Friesland
mittels des Einsatzes von Liquid Feedback – hier als „Liquid
Friesland“ bezeichnet – hat bei den meisten Verfahren eine
Grundgesamtheit von 20 bis 60 Teilnehmern. In einem Landkreis mit
100.000 Einwohnern lässt sich das kaum noch prozentual darstellen.
Und das, obwohl Liquid Friesland Deutschlandweit als großes Vorbild
der Bürgerbeteiligung gilt und andere Landkreise, zum Beispiel der
Landkreis Rotenburg/Wümme, dabei sind ähnliche System aufzusetzen.
Die Stadt Delmenhorst hat im Jahre 2013
ein sogenanntes integriertes Stadtentwicklungskonzept (ISEK)
erarbeiten lassen, dessen Regularien ein hohes Maß an
Öffentlichkeitsbeteiligung vorgesehen haben. Hier wurden
verschiedene „Werkstätten“ abgehalten, deren Beteiligung, nach
Abzug der beteiligten Politiker und des politischen Umfelds, ebenso
im niedrigen, einstelligen Bereich geblieben sind – bei einer
Kommune mit über 70.000 Einwohnern.
Dieses sind drei Beispiele aus
Niedersachsen, die sich aber problemlos auf andere Bundesländer
übertragen lassen.
Es bleibt festzuhalten, dass die
allgemeine Bürgerbeteiligung in Deutschland offensichtlich nicht
angenommen wird.
Anders sieht es
bei speziellen Anlässen aus. Jegliche Änderung des Lebensumfeldes
von Bürgern mündet im Allgemeinen unverzüglich in der Entstehung
einer Bürgerinitiative, die meistens sehr lautstark auf ihr Anliegen
hinweist und massiven, punktuellen Druck ausübt. Gibt man bei Google
als Suche „Bürgerinitiative gegen gegründet“ ein erhält man
392.000 Treffer (Stand 03.02.2014). Seien es Moscheen, Windräder,
Überlandleitungen, Straßen- oder Bahntrassen, Massentierhaltung,
Stadien, Kraftwerke, Einkaufszentren, Müllverbrennungsanlagen oder
Asylbewerberheime – immer wenn ein solches Vorhaben ansteht (und
hier soll keinerlei Wertung stattfinden) ist eine neugegründete
Bürgerinitiative schnell vor Ort aktiv. Dieses Verhalten zeigt uns,
dass die Bevölkerung sehr wohl bereit ist sich zu engagieren. Aber
zum überwiegenden Teil eben nur um Vorhaben zu verhindern, die
direkt in das Lebensumfeld der Mitglieder einer BI und der örtlichen
Gemeinde eingreifen. Bürgerinitiativen PRO sind wesentlich seltener
anzutreffen, ein Beispiel seien hier einige BI zur Förderung des
Ausbaus von Breitbandanbindungen an das Internet im ländlichen
Bereich.
Ist der
eigentliche Anlass der Gründung der BI nicht mehr gegeben, fallen
die Tätigkeiten und Initiativen der aktiven Mitglieder sehr schnell
wieder in sich zusammen. Nur in den seltensten Fällen gelingt es den
Initiatoren nach dem eigentlichen „Aufreger“ weitere
Gemeinsamkeiten zu finden, um die Mitglieder „bei der Stange“ zu
halten.
Aus dem englischen
Sprachraum kommt für dieses Verhalten das schöne Akronym „NIMBY“
- „Not in my Backyard“ - „Nicht in meinem Garten.“
Zusammenfassend kann man die These aufstellen, dass Bürger, die
an allgemeinen kommunalpolitischen Themen interessiert sind, bereits
in der Kommunalpolitik oder deren Umfeld tätig sind. Alle anderen
Einwohner einer Kommune lassen sich bestenfalls punktuell für die
Mitwirkung an politischen Themen begeistern.
Was für Lehren müssen wir für die
Kommunalpolitik aus diesem Verhalten ziehen?
Wir
müssen frühzeitig erkennen, wo Konfliktpotenziale schlummern
Wenn sich eine
Bürgerinitiative gegen ein kommunales Vorhaben bildet, ist das Kind
meistens bereits in den Brunnen gefallen. Im Allgemeinen sind die
Standpunkte dann bereits dermaßen verhärtet, dass sich den
Entscheidungsträgern nur noch zwei Optionen bieten:
-
Das Vorhaben gegen alle Widerstände durchzusetzen
-
Oder das Vorhaben aufzugeben.
Erkennt die
Politik allerdings frühzeitig das Konfliktpotenzial, ist es möglich,
durch Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger hier die Ängste
aufzugreifen und in die Planungen und Entscheidungen einfließen zu
lassen. Menschen, die sich mitgenommen fühlen, neigen weniger zur
totalen Ablehnung sondern arbeiten vielmehr häufig konstruktiv an
den Problemlösungen mit.
Wie kann diese
Einbeziehung erfolgen?
Nehmen wir an, es
soll ein Bebauungsplan für ein neues Wohngebiet entstehen.
Sinnvollerweise wartet man hier nicht nur die Stellungnahme des
zuständigen Fachbereichs der Verwaltung ab, sondern macht sich
selber vor Ort ein Bild von der derzeitigen Situation. Freie Flächen,
Wälder, Felder oder auch Gewässer dienen häufig der Naherholung
und liegen den Anwohnerinnen und Anwohnern sehr am Herzen. Hier
könnte schon während der Vorgespräche auf eventuelle
Schwierigkeiten eingegangen werden. Ein weiteres Problem könnten
ungeklärte Besitzverhältnisse oder eventuell notwendige
Umlegungsverfahren sein.
Nachdem man sich
einen Eindruck geschaffen hat, kann es sinnvoll sein, als Partei eine
Informationsveranstaltung vor Ort abzuhalten. Sinn einer solchen
Veranstaltung wäre es, die Anliegen der Bürger direkt in die
Beratungen einfließen zu lassen, solange noch keine Beschlüsse
gefasst worden sind. Bei einer normalen Beratungsfolge Fachausschuss
– Hauptausschuss – Stadtrat/Kreistag bieten sich auch während
der laufenden Bearbeitung immer noch Möglichkeiten an den
Stellschrauben eines Vorhaben zu manipulieren und somit die Wünsche
und Anliegen der Bevölkerung einfließen zu lassen.
Anlasslose
Bürgerbeteiligung funktioniert nur in den seltensten Fällen
Wie wir auch innerparteilich
bei der Akzeptanz von Liquid Feedback seitens der Mitglieder sehen,
funktioniert die Beteiligung „mit der Schrotflinte“ nicht oder
nur kurze Zeit. Spätestens wenn der Reiz des Neuen verflogen ist,
werden nur noch wenige Menschen bereit sein, ihre Zeit dafür zu
Opfern, sich in komplexe Sachzusammenhänge einzuarbeiten und sich zu
beteiligen. Wenn nicht einmal die Teilnehmer an Parteitagen der
Piratenpartei bereit sind, sich Anträge an den Parteitag im Vorfeld
in Ruhe durchzulesen, kann man das auch von der nicht politisierten
Bevölkerung kaum erwarten.
Wenn dann noch die
Themengebiete breit gestreut sind, fühlt sich der normale Benutzer
schnell überfordert und wendet sich ab. Dieses gilt umso mehr, wenn
die Angebote nicht niederschwellig und akzeptabel gestaltet sind.
Wie können wir das Ändern?
Wir müssen den Benutzer bei
seinen Interessen abholen. Es muss jedem klar sein, worum es geht und
ob ihn ein Themenbereich interessiert oder er direkt betroffen ist.
Hier könnten themenbezogene und zeitlich klar abgegrenzte
Bürgerbeteiligungsformen ein Weg sein, mehr Akzeptanz zu schaffen.
Ein Beispiel wäre, hier auch wieder durchaus auch auf die
Piratenpartei anwendbar, Themenwochen in Liquid Feedback zu starten.
So würden während der Themenwochen nur Initiativen aus dem vorher
festgelegten Themenbereich gestartet. Analog ließe sich dieses auch
auf die Bürgerbeteiligung abbilden. So könnten Werkstätten zu
bestimmten Themengebieten abgehalten werden, deren Ergebnisse zum
Beispiel in den Haushaltsentwurf der Kommune einfließen.
Den
Spin von Bürgerinitiativen nutzen
Zumindest am Beginn und
während der ersten Zeit einer BI herrscht eine große Motivation bei
den Mitgliedern. Man ist hier gerne bereit, ein hohes Maß an
Engagement einzubringen. Als Partei finden wir hier hoch motivierte
Bürgerrinnen und Bürger vor, die bereit sind ihr Anliegen massiv zu
vertreten. Hier gilt es sich frühzeitig einzuschalten und den Spin
zu nutzen, wenn die Anliegen der Bürger unseren Themen entspricht.
Hier geht es nicht um das Kapern einer BI. Es geht hier darum,
quasi als politischer Arm einer BI zu agieren und so den Themen mehr
Druck zu verleihen. Über diesen Weg kommen wir als Kommunalpolitiker
mit den engagierten Bürgern in Kontakt und können unter Umständen
sogar Synergien generieren. Ähnlich agieren heute schon die
Wählergemeinschaften in den einzelnen Städten und Gemeinden. Diese
sind häufig sehr stark in den örtlichen Bürgerinitiativen
verwurzelt und erzielen teilweise erstaunliche Ergebnisse bei den
Kommunalwahlen.