Sind wir noch Politikfähig?
Eine kritische Bestandsaufnahme unseres Landesverbands.
Zum ersten Mal in der Geschichte des Landesverbands haben wir im Februar in Norden ein Vorstandsamt besetzt, das explizit politisch definiert ist: den politischen Geschäftsführer. Drei Monate später möchte ich diese Gelegenheit nutzen um den aktuellen politischen Zustand unseres Landesverbands kritisch zu beleuchten.
Was heißt überhaupt “Politik” und wie definiert sich die Fähigkeit, Politik zu machen?
Wir sollten an dieser Stelle zuerst definieren, was Politik eigentlich bedeutet. Die Wikipedia sagt uns hierzu:
“Das Wort Politik bezeichnet sämtliche Institutionen, Prozesse, Praktiken und Inhalte, die die Einrichtung und Steuerung von Staat und Gesellschaft im Ganzen betreffen.
In der Politikwissenschaft hat sich allgemein die Überzeugung durchgesetzt, dass Politik „die Gesamtheit aller Interaktionen definiert, die auf die autoritative [durch eine anerkannte Gewalt allgemein verbindliche] Verteilung von Werten [materielle wie Geld oder nicht-materielle wie Demokratie] abzielen“.[1] Politisches Handeln kann durch folgenden Merksatz charakterisiert werden: „Soziales Handeln, das auf Entscheidungen und Steuerungsmechanismen ausgerichtet ist, die allgemein verbindlich sind und das Zusammenleben von Menschen regeln“.[2]
Die Kernbegriffe sind für mich hier: “Handeln, Entscheiden und Steuern”. Politisch tätig zu sein bedeutet also am Ende: zu Handeln, zu Entscheiden und zu Steuern. Und das sowohl nach Innen, also innerhalb der Partei, wie auch nach Außen, in die Gesellschaft hinein.
Wenn wir diese drei Felder einmal aufdröseln wollen:
Steuern - Hier geht es unter anderem darum, Themen aus der Gesellschaft oder auch aus der Aktualität heraus, aufzugreifen, zu bewerten, zu besetzen und letztendlich den Kurs der Partei und der Gesellschaft zu steuern. Betrachten wir dieses aus dem innerparteilichen Blickwinkel, so sollten wir zuerst einmal die interne Diskussion innerhalb der Partei bewerten. Dieses ist insofern unabdingbar, als dass ja jegliche Wirkung nach Außen zwingend einen Konsens innerhalb der Partei erfordert, soll das mögliche Ergebnis nicht durch einen folgenden, innerparteilichen “Shitstorm” konterkariert werden.
Diskussionen über Themen finden bei den Piraten traditionell über die Mailinglisten, innerhalb der politischen AGs oder auch mal über Twitter statt. Hier werden die (in der Idealvorstellung) die Themen, die die Partei besetzen will, diskutiert, konsensfähig gemacht und danach auf Mitgliederversammlungen oder Parteitagen verbindlich beschlossen und in die Gesellschaft getragen.
Auf der Hauptmailingliste der Piraten in der Niedersachen “pirates.de.region.ni.misc” gab es in den letzten drei Monaten 1561 Nachrichten. Davon waren ungefähr 30-35 mit politischen Inhalt. Zum Vergleich hatte ein Thread über einen Drucker in Hildesheim 54 Nachrichten. D.h. ungefähr 2-3% aller Mails auf der Hauptliste in Niedersachsen waren im weitesten Sinne politisch.
Politische AGs gab es in der Vergangenheit einige im Landesverband, beispielsweise seien hier die AG Bildung, die AG Tierschutz oder auch die Anti-Atompiraten genannt. Im Wiki werden aktuell 14 AGs aufgeführt. Von diesen hat allerdings nur die AG Tierschutz (http://wiki.piratenpartei.de/NDS:AG_Landwirtschaft_Tierschutz_Ern%C3%A4hrung_Verbraucherschutz) einen aktuellen Status. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass sich der politische Geschäftsführer des Landesverbands zum Ziel gesetzt hat, die AGs wieder zu beleben. Man darf gespannt sein.
Diskussionen auf Twitter können bestenfalls dem kurzen Austausch von Standpunkten dienen, eine inhaltliche Arbeit kann hier per Definition nicht stattfinden, daher können die Statements hier vernachlässigt werden.
Bliebe als letzten Medium der inhaltlichen Arbeit des Treffen im sogenannten Real-Life, also direkt vor Ort. Hier gab es nach ausgiebigen Studium der Vorstandsprotokolle und der Listen nur das kommunalpolitische Arbeitstreffen in Delmenhorst. Ein weiteres Treffen ist an diesem Wochenende in Oldenburg geplant, inhaltliche Impulse sind hier aber eher nicht erwarten, weil es hier nicht darum geht.
Halten wir also fest: Das Handlungsfeld “Steuern” findet parteiintern zur Zeit nicht statt und wird auch weder von der Führungsebene noch von der Basis gefördert oder auch nur eingefordert.
Kann eine Partei, die innerparteilich keinerlei politische Arbeit vorzuweisen hat, überhaupt nach aussen wirken?
Sofern es um unsere Kernthemen wie Bürgerrechte, Datenschutz oder Teilhabe geht könnte die Partei auch aus dem Bestand heraus agieren, ohne hier vorher innerparteilich diskutieren zu müssen. Das wird auch durch eine der wenigen arbeitenden AGs, der AG Presse, beharrlich probiert. Leider stehen die sich engagierenden Piraten einem starken Desinteresse der Medien gegenüber, da wir hier nur auf Ereignisse reagieren können, nicht aber Agendasetting betreiben können. Das liegt in der Natur der Pressearbeit. Es bleibt also festzuhalten, dass die Piraten in Niedersachsen seit der Landtagswahl 2013 faktisch nicht stattfinden. Alle Möglichkeiten der ausserparlamentarischen Arbeit, seien es Demonstrationen, Zusammenarbeit mit NGOs oder auch mit Bürgerinitiativen (hier sei auf diesen Artikel hingewiesen: http://provinzpirat.blogspot.de/2014/01/unser-weg-fur-2014-ein-vorschlag-fur.html) werden nicht andiskutiert oder angestossen.
Entscheiden. Das nächste Feld der Politik ist es, Entscheidungen zu treffen. Hier ist naturgemäß der Landesvorstand gefordert, ist er doch das einzige Gremium, dass befugt ist, ausserhalb der Mitgliederversammlungen Entscheidungen zu treffen. Auf den bisher im Wiki verlinkten Protokolle der letzten drei Monate (http://wiki.piratenpartei.de/NDS:Vorstand/Protokolle) ist nicht ein einziger Beschluss zu einem politischen Thema zu finden. Einzig die zur Verwaltung eines Landesverbands zu fassenden Entscheidungen werden, häufig nach mehrfacher Vertagung, getroffen. Auch hier läuft das politische Amt komplett ins Leere.
Entscheidungen, die in die Gesellschaft eingreifen können zur Zeit die ca. 40 verbliebenen kommunalen Mandatsträger der Piratenpartei in Niedersachsen treffen. Hier sind zur Zeit noch drei reine Piratenfraktionen (Braunschweig, Wolfsburg und Delmenhorst) intakt und am arbeiten, hinzu kommen diverse Einzelvertreter in den verschiedenen kommunalen Parlamenten, die zum Teil mit Vertretern anderer Parteien Gruppen bilden. (http://www.kommunalpiraten.de/). Hier wird zum größten Teil gute und wirkungsvolle Arbeit geleistet. Dieses allerdings nach wie vor ohne die zwingend notwendige Vernetzung der Mandatsträger. Hier wird allerdings nach und nach Abhilfe geschaffen, als Beispiel sei hier das Antragsarchiv unter http://antragsarchiv.kommunalpiraten.de/ genannt. Werden die Grundlagen, die auf dem zweiten Arbeitstreffen der Kommunalpiraten gelegt worden sind, aufgenommen und weiterentwickelt könnte in den nächsten Jahren hier eine sinnvollen Arbeitsebene geschaffen werden.
Leider werden die kommunalen Mandatsträger vom Landesvorstand in keiner Weise unterstützt oder gefördert, so dass die teilweise hervorragende Arbeit der Ratsfrauen und -herren mehr der persönlichen Qualität der Abgeordneten und weniger der guten Arbeit des Landesverbands zu danken ist.
Handeln. Die letzte Kernbotschaft der politischen Tätigkeit ist das Handeln. Hier gilt es, die gefundenen Themen und gefassten Beschlüsse umzusetzen. Innerparteilich wäre hier das Schaffen von Strukturen anzusiedeln. Man kann heute ruhigen Gewissens testieren, dass der Landesverband auf der rein verwaltenden Ebene, dem Geschäftsbereich des Generalsekretärs, relativ gut aufgestellt ist. Die Mitgliederverwaltung scheint nach Jahren ohne sinnvolle Prozesse endlich zu funktionieren und auch die Schatzmeisterei macht wenig Sorgen. Auf allen anderen Ebenen gibt es nach wie vor kaum bis keine belastbaren Strukturen. Viele der 2011 und 2012 gegründeten Kreisverbände und Stammtische sind sang- und klanglos eingeschlafen oder handlungsunfähig, ohne dass hier der Wille erkennbar wäre, gegen zu steuern. Das in 2012 eingeführte Sekretariat beim Landesvorstand wurde nicht ausgebaut und auf feste Fundamente gestellt. Es wird in weiten Teilen des Landesverbands nicht mehr gehandelt, agiert, sonder bestenfalls nur noch reagiert.
Handeln nach außen würde zum Beispiel bedeuten Kampagnen zu starten. Zum Beispiel gegen Fracking, für die kommunale Gesundheitsversorgung oder die Zukunft der Hebammen. Handeln würde zum Beispiel auch das Abhalten von thematischen Kongressen, das Organisieren von Demonstrationen zu aktuellen Themen oder das Suchen von Bündnispartnern zum besseren Durchsetzen von Standpunkten oder Anliegen bedeuten. Handeln heißt halt auch irgendwann einfach mal: “Machen statt labern!”. Auch hier findet einiges auf der lokalen Ebene statt, allerdings auch hier ohne die ordnende und helfende Hand des Landesverbands.
Zusammenfassend kann man sagen, dass unser Landesverband zur Zeit auf allen drei Feldern der Politik, wie oben definiert, nicht in der Lage ist zu agieren sondern bestenfalls reagiert. De Facto sind wir zur Zeit nicht politikfähig. Wie es unter diesen Umständen gelingen soll, in 2016 wenigstens die vorhandenen kommunalen Mandate zu verteidigen, geschweige den auszubauen, wie es gelingen soll, wieder mehr Menschen für unseren Ansatz der Politik zu begeistern oder in 2018 gar in den Landtag einzuziehen ist mir ein Rätsel.
Danke an Roman Grusso der mir heute den Anstoss für diesen Post gegeben hat.